Der neue Judenfriedhof

Das Adjektiv „neue“ täuscht natürlich. So „neu“ ist der „neue“ jüdische Friedhof von Offenbach nun auch wieder nicht. Es ist eben alles relativ. Aber im Vergleich zu seinem „alten“ Vorgänger kann man schon von „neu“ sprechen oder besser von „jünger“. Dennoch ist auch er schon über 100 Jahre alt.

Neuer jüdischer Friedhof in Offenbach im Jahr 2020

Das älteste Grab liegt in der Südwestecke des Friedhofs. Die Inschrift des Gedenksteins lautet:

Hier ruht in Frieden

Mayer Triefus

geb. im Januar 1820

gest. 23. Sept. 1887

Mayer Triefus wurde also 1887 beigesetzt. Diese Jahreszahl stimmt mit der auf der Tafel, die am Friedhofseingang angebracht wurde, überein. Es heißt dort u. a.: Bestehend seit 1887.

Nach Mayer Triefus, beigesetzt auf dem neuen Friedhof, wurde jedoch mindestens noch eine Person auf dem alten Friedhof bestattet. Es handelt sich um Marianne Isaak, die im Jahre 1890 zur ewigen Ruhe gebettet wurde. Offensichtlich gab es bezüglich der Belegung beider jüdischer Friedhöfe in Offenbach gewisse Überschneidungen. Es ist durchaus denkbar, dass Marianne Isaak vor ihrem Hinscheiden den Wunsch äußerte, noch auf dem alten, in herrlicher Landschaft gelegenen Waldfriedhof begraben zu werden.

Während ein jüdisches Begräbnis in Urzeiten noch am Todestage stattfand und die Leiche, einbalsamiert und in Tücher gewickelt, in einer Felsenkammer beigesetzt wurde, hatte man sich in der Fremde der Sitte der Gastländer angeglichen. Das heißt, man wartete mit der Beerdigung wenigstens 48 Stunden und bestattete den Verstorbenen in einem schlichten Holzsarg. In fast jeder jüdischen Gemeinde gab es eine ehrenamtliche religiöse Vereinigung, Chewra Kaddischa genannt, die sich um die sogenannten Liebesdienste in Krankheits- und Todesfällen kümmerte, so auch in Offenbach.

Die Trauerfeier fand hier zunächst auf dem Friedhof statt. Es wird berichtet, dass die hiesigen Juden ihre Toten zum Friedhof getragen haben. Dabei wurde der von der Chewra Kaddischa angeführte Trauerzug von den Frauen und Kindern nur bis zum Golschbach und ab 1887 nur bis zum Glan begleitet.

Der Weg zum alten jüdischen Friedhof von Offenbach war steil und wohl um die 2.000 Meter lang. Da bedurfte es schon einer ganz erheblichen körperlichen An­strengung, um einen Sarg hinaufzutra­gen. Man musste Pausen einlegen und mehrere Trägergruppen einsetzen.

Diese Anforderungen stellte der neue Friedhof nicht mehr. Zur Zeit seiner Ein­richtung gute 500 Meter vom Ortskern entfernt, lag er auf freiem Felde im Be­reich „An der Höhe“. Der Weg zu ihm steigt zwar leicht an, ist aber weit weniger strapaziös als der zur alten Anlage.

Seine Randlage hat der neue jüdische Friedhof inzwischen allerdings verloren. Er ist eingeholt worden von bebauten Flächen, also umgeben von Straßen und Gebäuden, und dennoch eine Insel der Ruhe und des Friedens. Eine etwa 1,50 Meter hohe Mauer schirmt ihn nach der Umgebung hin ab. Mehrere mittelgroße Bäume, Lebensbäume und Akazien spenden Schatten und vertreten die Na­tur. Eine Reihe großer serbischer Fichten entlang der äußeren Südseite wirkt wie eine lebende Mauer und schützt den Friedhof zur Hauptschule hin. An der Ost- und Nordmauer mühen sich außen vorgesetzte Ziersträucher um einen Naturschirm. Und obwohl der Friedhof nahezu von Verkehrsflächen umgeben ist, stellt er doch oder gerade deshalb eine Stätte der Beschaulichkeit und Andacht dar.

Die neue jüdische Friedhofsanlage zeigt eine West-Ost-Ausrichtung und ist etwa 31 m lang und 23 m breit. Die Fläche beträgt nur um die 700 qm, ist also, gemessen an der des alten Waldfriedhofes im „Obersten Frimschenberg“ (2.355 qm), wesentlich kleiner.

Die Grabstätten „An der Höhe“ sind zu vier Reihen angeordnet (siehe schematische Darstellung). Die nördliche Reihe besteht aus je vier Einzel- und vier Doppelgräbern. Der Grabplatz 7 b ist nicht belegt. Die Grabreihe davor besteht aus acht Einzel- und zwei Doppelgräbern. Die Grabstätte 15 b ist nicht belegt.

Die südliche Innenreihe weist acht, die Südreihe elf Einzelgräber auf. Insgesamt wurden auf diesem Gottesacker 41 Bestattungen vorgenommen.

Johanna und Samuel Isaak (18 a + b) wohnten einst in Grumbach, Johanna Löb (31) in St. Julian. Sie wurden in Offenbach bestattet, weil es in den beiden genannten Dörfern zu jener Zeit weder eine genügend große jüdische Gemeinde noch einen Friedhof gab.

Einige Grabsteine sind schon stark verwittert, sodass man die Inschriften nicht mehr vollständig entziffern kann. Das trifft vor allem zu für die Gräber 8, 10, 20, 23, 27, 32, 34 und 35.

Die Grabsteine 19 und 25 (Johanna Mayer und Leopold Mayer) enthalten nur jeweils den Namen und das Sterbejahr und wirken überdies sehr bescheiden, was aber durchaus nicht als negativ anzusehen ist.

In den Stein des Grabes Nr. 16 (Ferdinand Rothschild) meißelte der Steinmetz für „geb.“ und „gest.“ Symbole ein, nämlich den Stern und das Kreuz. Dass beide christliche Symbole sind, scheint die Familie Rothschild nicht gestört zu haben.

Die Grabinschrift Nr. 17 (Ida Roos) zeigt noch eine kleine Besonderheit. Da steht nämlich dies: gest. 21. Adari 5676. Es handelt sich nicht etwa um einen Schreibfehler, sondern um ein ganz normales Datum, das allerdings einer gewissen Erläuterung bedarf.

Im Judenthum beginnt die Zeitrechnung im Jahr 3.761 vor Christi Geburt. Dieses Jahr ist nach dem Glauben der Juden der Beginn der Erschaffung der Welt. Wenn man nun wissen möchte, wann Frau Ida Moos nach christlicher Zeitrechnung gestorben ist, kann man dies durch folgende Rechnung leicht herausfinden:   5.676   — 3.760          = 1916 ……  Adari oder Adar ist ein Monatsname, den die Juden zusammen mit anderen aus dem babylonischen Exil nach Judäa mitbrachten.

Selbst wenn man als unbeteiligter Besucher oder auch als interessierter Beobachter über den jüdischen Friedhof geht oder von Grab zu Grab schreitet und die Grabsteininschriften zu entziffern sucht, wird man begleitet von einem Gefühl der Anteilnahme. Man bleibt nicht kalt und unberührt. Die Gedanken gehen Wege, die unter Umständen einige Jahrzehnte oder weiter zurückführen. Man versucht sich vorzustellen, was wohl die hinterbliebenen Menschen damals empfunden haben, was sie dachten, als das Liebste von ihnen ging.

Amanda Lazarus zum Beispiel — das war die Jüdin, der es Freude machte, die Offenbacher Jungen und Mädchen am Passahfest mit Mazza zu beglücken — ließ ihren ganzen Schmerz in den Grabstein ihres Mannes meißeln: Hier ruht mein innigstgeliebter Gatte… Kinder gaben ihrer Dankbarkeit Ausdruck, indem sie den Steinmetz schreiben liessen: Hier ruht unsere gute Mutter…

Was für ein Mensch mag Röschen Simon gewesen sein? Sie wurde nur 34 Jahre alt. Unerwartet traf der Tod einen jungen Menschen mit sonnigem Gemüt: Hier liegt zum ewigen Schlaf gebettet, unsere gute, innigsgeliebte Schwester und Schwägerin . . . Aber auch, wenn da nur steht: „Hier ruht in Frieden . . . “ oder „Hier wurde zur ewigen Ruhe gebettet . . .“ oder „Hier schlummert sanft . . .“,  dann ist auch das jeweils ein Ausdruck des Schmerzes. Und wenn ein Grabmal nur den Namen des Verstorbenen sowie Geburts- und Sterbedatum enthält, dann kann man nachempfinden, dass sich die Hinterbliebenen dank ihrer Glaubensstärke bereits in das Unabänderliche gefügt haben.

Natürlich kann man das alles auch auf einem christlichen Friedhof in die Inschriften der Grabmäler und in die Gedanken der Menschen hineininterpretieren. Im Grunde genommen besteht doch eine große Übereinstimmung. Juden und Christen sind allemal Menschen, auch wenn sich ihr Glaube und ihre Friedhöfe äußerlich ein wenig unterscheiden. Mag sich der jüdische Friedhof, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, durch seine Einfachheit und Natürlichkeit auszeichnen, der christliche hingegen durch seine gezielte Bepflanzung und den Blumenschmuck, so bekunden doch beide Religionen übereinstim­mend ihren Glauben an das ewige Leben.

(Wir danken Herrn Schäfer für seine Bilder des „neuen“ jüdischen Friedhofs – rechts von Herrn Schäfer ist ein japanischer Arbeiter abgebildet, der hier in der Landwirtschaft beschäftigt war.)

 

 

Plan der Grabstätten

Besuch aus Australien

Karl Horbach, der im September 1953 Bürgermeister der Gemeinde Offenbach am Glan wurde und dieses Amt bis 1969 inne hatte, erzählt, dass er Ende der fünfziger Jahre einen Brief von einem Juden namens Roos erhielt. Erstaunt stellte der Bürgermeister fest, dass jener Brief aus Australien kam. Der Schreiber besaß dort eine Farm und hatte sich auf seine „alten Tage“ — er war damals wohl um die 75 Jahr alt — seines Geburtsortes und der Gräber seiner Eltern und Grosseltern erinnert.

Roos bat den Bürgermeister, eben nach jenen Gräbern zu sehen und sie gegebenenfalls in Ordnung bringen zu lassen. Karl Horbach kam dem Wunsch gern nach. Er liess die Gräber sogar fotografieren und schickte die Bilder nach Australien.

Leider ist heute nicht mehr ganz sicher auszumachen, um welche Gräber es sich im einzelnen handelte. Die Familie Roos war recht verzweigt, und so findet sich auf dem jüdischen Friedhof in Offenbach eine ganze Reihe von Grabsteinen, in die der gleiche Nachname eingemeisselt wurde:

Samuel Roos 1815-1888
Karoline Roos 1811-1889
Regine Roos . .         —            .
Sigmund Roos 1848-1894
Ferdinand Roos 1842-1902
Bernhard Roos 1848-1914
Ida Roos 1844-5676 (1916)
Ferdinand Roos 1837-1925

Der Bürgermeister jedenfalls hatte seinerzeit die rechten Gräber herrichten und fotografieren lassen und erhielt als Antwort auf die überlassenen Bilder ein Dankschreiben. Roos bat darum, die Rechnung an eine Binger Firma zu schicken. Von dort aus wurde sie recht grosszügig beglichen. Damit schien der Fall erledigt zu sein.

Aber niemand hatte mit der Energie und den Wünschen des alten Herrn gerechnet. Diesen packte nämlich eines Tages – er mochte nun so um die 80 Jahre alt gewesen sein – das Heimweh, vielleicht auch das Fernweh oder die Neugier auf Bingen und Offenbach. Auf jeden Fall traf er eines Tages, aus dem fernen Australien kommend, in Bingen ein. Der dort zuständige Landrat übernahm es, für Roos die Verbindung nach Offenbach beziehungsweise zum Bürgermeister Horbach herzustellen und einen Treff in der Glangemeinde zu vereinbaren. Der Landrat tat noch mehr. Er begleitete den alten Herrn und dessen Ehefrau nach Offenbach. Man traf sich im Hause des Bürgermeisters.

Bald hatte sich die Geschichte von dem Besuch herumgesprochen. Und da konnte es gar nicht ausbleiben, dass es auch zu einer Begegnung zwischen Herrn Roos einerseits und einigen etwa gleichaltrigen Offenbacher Bürgern andererseits kam. Unter den letzteren befand sich auch der Vater des Bürgermeisters. Man kannte sich, war wohl ein wenig verwundert darüber, wie alt doch das jeweilige Gegenüber inzwischen geworden war. Aber die Kinderzeit saß dennoch recht frisch im Gedächtnis. Man konnte sich sogar über den einen oder anderen kleinen Jungenstreich austauschen, den man im zarten Alter von sechs bis acht Jahren gemeinsam vollbracht hatte. Immer wieder hieß es: „Weißt du noch, als wir damals . . .“ Als Kinder hatten die alten Herren offenbar keinerlei Unterschiede gemacht zwischen evangelisch, katholisch oder jüdisch. Sie haben vielmehr unbefangen miteinander gespielt.

Im Anschluss an das Treffen ließen sich Roos und seine Frau dann durch Offenbach fahren. Zunächst besuchten die Gäste den „jüngeren“ jüdischen Friedhof, der übrigens heute noch von seiten der Gemeinde gepflegt wird. Dort legte man auf den Gräbern der Verstorbenen Eltern Roos und Verwandten gleichen Namens je eine rote Rose nieder. Dann setzte die Gruppe die kleine Rundfahrt fort.

Der Wagen bog, von der B 420 kommend, an der Apotheke in die Hauptstrasse ein und fuhr am Marktplatz vorbei. Vor dem alten Haus Hauptstrasse 73 liess Roos halten und erklärte den erstaunten Zuhörern: „Dort, in dem Raum hinter jenem kleinen Fenster bin ich geboren“. Dabei deutete er auf ein Fenster in dem heute unbewohnten und vom Verfall bedrohten Gebäude (s. Bild folgende Seite).

Im Alter von sieben oder acht Jahren schon hatte Roos Offenbach verlassen, um zu seinem Onkel nach Bingen zu gehen. Jener Onkel gleichen Namens hatte den Jungen adoptiert und besaß in Bingen einen mittelständischen, gut funktionierenden Betrieb, in den sich der junge Roos später einarbeitete. Zu Beginn der Nazizeit war die Familie rechtzeitig nach Australien ausgewandert. Nach dem Kriege erhielt sie die Firma zurück.

Langsam fuhr die Limousine weiter die Offenbacher Hauptstraße entlang. Man schaute nach rechts oder links und stellte fest, dass sich in Offenbach eigentlich nicht viel verändert hatte. Zum Beispiel gab es damals noch das alte Kopfsteinpflaster wie schon vor Jahrzehnten.

Dann liess Roos den Wagen abermals halten, und zwar zwischen den Anwesen Hauptstraße Nummer 10 und 14, also gewissermaßen vor dem Haus Nummer 12, das es damals noch nicht gab. Der alte Herr erklärte, man müsse sich die Bundesstraße 420 wegdenken. Dann könne man sich vielleicht vorstellen, dass zwischen den besagten Häusern und dem Bahngelände ein kleiner Acker gewesen sei. Dieses Grundstück habe einst ihm gehört. Er hätte es etwa 1930 der Gemeinde Offenbach geschenkt, damit sie es veräußern und von dem Erlös einen Leichenwagen anschaffen könne, der allen Konfessionen fortan dienen sollte. So ist es dann auch tatsächlich geschehen. Der Wagen wurde in einer kleinen Garage, in der Brückenstraße (früher Judengasse), schräg gegenüber dem Pranger gelegen, stationiert.

Nach seinem Besuch in Offenbach trieb die Sehnsucht den alten Herrn Roos übrigens nach Amerika, wo er seine jüngste Tochter besuchte. Glücklich, sie noch einmal gesehen und gesprochen zu haben, kehrte er nach Australien zurück. Bald darauf soll er gestorben sein, gewissermassen in den Armen seiner ältesten Tochter.