Wie geht es weiter

Der Textilhändler Hugo Heymann wurde aus Offenbach ausgewiesen und erreichte zusammen mit seiner Familie gerade noch rechtzeitig das Exil in New York, wo er bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges verstarb. Seine Bemühungen um eine Entschädigung für die Misshandlungen bei der Reichskristallnacht und zu Erstattung seines auf der Flucht verlorenen Vermögens blieben erfolglos.

Sein Sohn Kurt Heyman arbeitete über 50 Jahre als Manager bei Leviton, einem Hersteller von Elektrozubehör. Dort traf er seine 12 Jahre jüngere Frau Else. Kurt Heyman starb mit 96 und seine Frau Else mit 90 Jahren. Sie hatten zwei Söhne: Harvey und Ronald. Harvey studierte in der Harvard Business School und leitete eine große Klinikkette in Connecticut.

Der Kontakt kam durch die Urenkelin, Prof. Laura Heyman zustanden. Sie studierte u.a. an der Harward Law school und lehrt Recht an der Marshall-Wythe School of Law in Virginia. Sein Urenkel Harvey Heymann berichtet über seine Erfahrungen als Nachkomme von Opfern von Hass und Vertreibung: Angst – Misstrauen – Streben, bloß nicht auffallen“ – Harvey Heyman (62), der Sohn eines Offenbacher Juden, erinnert sich an seine Eltern.

Ich heiße Harvey Heyman. Rev. Hülser bat mich,  für diese Denkschrift ein Vorwort beizusteuern. Meine Verwandten und ich freuen uns, dass wir gefragt werden, einen kleinen Beitrag zu der Schrift zu leisten, die die andauernden Folgen dieser schrecklichen Zeiten für ein kleines Dorf während dieser finsteren Zeiten beschreibt.  Es ist wichtig, die Erinnerung an Details aus dem  Leben normaler Leute, die von den großen Ereignissen der Geschichtsbücher betroffen wurden, wach zu halten. Diese Schrift macht deutlich, wie das normale Leben alltäglicher Menschen aus einen konkreten Ort von den Nazis erschwert oder sogar zerstört wurde: Das schließt Hugo und Hermine Heyman ein, meine Großeltern, die zu den Glücklichen gehörten, die in die USA fliehen konnten. Es ist uns eine Ehre, dass auch ihr Leben und ihre Leistungen hier anerkannt werden.

Als ich die Einzelheiten der E-Mails von Pfr. Hülser über ihr Schicksal las, erwachten in meinem Bruder und mir tiefe Kindheitserinnerungen. Beide haben wir in den USA erfolgreiche Leben führen dürfen, aber die Erinnerung an Eltern, die eine enorme Last auf den Schultern zu tragen schienen, war und ist immer da: Unser Vater Kurt arbeitete im elterlichen Textilgeschäft in der damaligen „Adolf-Hitler Strasse“ bis zur Auswanderung. Unsere Mutter, 12 Jahre jünger, wurde alleine mit 15 Jahren gezwungen, NS-Deutschland zu verlassen. Wir erinnern uns an meinen Vater, der uns von der NS Zeit erzählen wollte; einschließlich der Schläge durch die Nazis auf den Kopf seines Vaters. Sie waren höchstwahrscheinlich der Grund für seinen einen vorzeitigen Tod in New York. Ganz anders unsere Mutter: Sie versuchte die Erinnerungen an die Vergangenheit zu unterdrücken und unterbrach ihn deshalb, wenn er von Deutschland erzählte. Sie wollte diesen Alptraum nicht wieder lebendig machen.

Wir erinnern uns an Eltern, die misstrauisch gegenüber allen waren, die nicht Juden waren; wir wussten nur nicht warum. Wir erinnern uns, wie Mutter immer wollte, dass wir uns einfügen und bloß nicht auffallen sollen; und verstanden nicht, warum ihr das so wichtig war. Wir erinnern uns an die überwältigende Angst unserer Eltern vor Behörden und verstanden wieder nicht warum. Erst nach vielen Jahren erzählte Mutter von Lehrern, die sie urplötzlich nicht mehr in der Schule dran nahmen; von den vielen Spielkameraden, von denen sich einer nach dem anderen gegen sie wandte und sie wie eine Feindin behandelte. Und sie hatte ihnen doch keinen Grund dazu gegeben. Selbst jetzt verstehen wir die Auswirkungen, die ihr Leben im 3. Reich auf ihr ganzes späteres Leben hatte. Als sie merkten, dass eine Regierung, die eigentlich auch ihre Menschenrechte schützen sollte, auf einmal zu einem Regime wurde, dass sie jagte, um ihr Leben zu zerstören. Und das nur weil sie in einer falschen Familie geboren waren.

Mein Bruder und ich sind froh, dass wir in einem Land leben, das keine Diktatoren kannte. Aber brutale Diktatoren können überall da an die Macht kommen, wo die Menschen sich nicht wehren und von der Geschichte nichts lernen. Dadurch, dass in dieser Schrift die Erinnerung an diese objektiv schreckliche Zeit in der Geschichte von Deutschland und Offenbach wach gehalten wird, leistet sie einen Beitrag, dass so etwas nie wieder geschehen kann. Dafür danken wir.

Harvey P. Heymann