Flüchtlinge

„Warum lässt der liebe Gott die Bomber nicht einfach in das Wasser fallen?“

Siegfried Botsch aus Wiesweiler erzählt von seiner Flucht aus Ostpreußen:

„Ich lebte mit meiner Familie in einem kleinen Haus in Maraunen bei Königsberg auf dem Gut. „Gut“, das war ein großer Landbesitz, der einem „Gutsherrn“ gehörte. Mein Vater war Landarbeiter und Pferdepfleger, meine Mutter arbeitete in der Landwirtschaft des Gutsbesitzers (Deputat).

Vater und ältester Bruder wurden Soldaten. Unsere Mutter kümmerte sich um uns vier Kinder. Ich war elf Jahre, meine beiden Schwestern drei und fünf und mein Bruder 13. In unserer Küche befand sich die Schreibstube des Militärs.

Am 07. Februar 1945 erhielten wir die Anweisung,  das Notwendigste einzupacken und einige (!) Kilometer nach Westen zu gehen, bis die Front, die mittlerweile bei Kreuzburg (ca. 25km entfernt) war, wieder zurückgedrängt sei. Jetzt wurde bekannt, dass sowohl die Herrschaft wie auch der Inspektor längst das Gut verlassen hatten.

Ein Wagen wurde beladen und zwei Pferde eingespannt. Am nächsten Tag verließen wir unsere Heimat. Die Straßen waren vom Militär besetzt, auf den schlechten Feldwegen kamen wir nicht gut vorwärts. Wir mussten in Ställen und Scheunen schlafen, deren Dächer stark beschädigt waren.

In Heiligenbeil angekommen sollten wir über das zugefrorene Frische Haff weiterziehen. Ganze Kolonnen befanden sich darauf. Aus Angst, dass das Eis unter der Last bricht, entleerten wir unseren Wagen. Bis auf Federbetten und Lebensmittel ließen wir das Wenige, das wir bei uns hatten, zurück. Der Treck zog Richtung Danzig. Es gab Großangriffe durch Engländer und Amerikaner. Unsere Mutter suchte mit mit uns Schutz unter dem Wagen. Die Luftangriffe wurden schlimmer, Splitterbomben fielen auf das Eis. Das Eis brach. Unsere Mutter zog uns Kinder vom Wagen weg und rannte mit uns los. Wir retteten uns an Land der Kurischen Nehrung. Pferde, Wagen und Menschen verschwanden unter dem Eis.

Auf eigene Faust und ohne Führung waren wir nun zu Fuß unterwegs. Überall lag totes Vieh, und wir sahen viele tote, zerfetzte Menschen. Meine kleinen Schwestern konnten so weit nicht laufen, wir mussten sie tragen. Wir hatten nichts mehr außer dem, was wir am Leib trugen. Unsere Mutter bettelte, damit wir etwas zu Essen hatten.

In Narmeln angekommen, wo ein Hauptverbandsplatz des Militärs war, schliefen wir in einer Baracke und bekamen wenig zu essen. Die Verpflegung erfolgte durch das Militär. Es gab nur Pferdefleisch in der Brühe, ohne Gewürze und Beilagen. Viele alte Leute und Kinder starben hier an Schwäche. Die Massenquartiere waren mit Stroh ausgelegt. Kinder fanden eine Handgranate und haben damit gespielt. Sie explodierte, und zwei von fünf Geschwistern starben, die anderen wurden durch die Splitter verletzt. Das Militär nahm uns Flüchtlinge mit nach Pillau. Es durften aber nur Familien mitkommen, die vier und mehr Kinder hatten. Die Mutter der verunglückten Kinder wurde mit den noch lebenden drei Kindern zurückgelassen.

Mit dem Dampfschiff Deutschland wurde die Flucht fortgesetzt. Es gab Angriffe. Ein Fischkutter übernahm uns auf See und brachte uns nach Warnemünde. In Groß-Berkenthin angekommen war unsere Flucht zu Ende.

Wir wurden mit 50 anderen Menschen in einer Schule einquartiert. Die sanitären Anlagen nutzte man als Entlausungsstation, als Toiletten dienten die „Donnerbalken“. Diese verunreinigten das Wasser des Schulbrunnens; Seuchen brachen aus. Unsere Mutter erkrankte an Typhus und kam nachts ins Krankenhaus. Sie überlebte die schwere Krankheit. Die Mitbewohner kümmerten sich um uns Kinder. Vor Ort gab es keine ärztliche Versorgung.

Am 03. Mai 1945 rückten die Engländer ein. Alle Flüchtlingskinder freuten sich über die verteilte Blockschokolade, Seife und die Zigaretten. Besonders bleibt mir in Erinnerung: „Sie haben nicht geschossen“.

Als der Krieg endete, wollte keiner uns Flüchtlinge aufnehmen. Unsere Familie zog in den Kotten (elendes Haus) des Bürgermeisters in ein Durchgangszimmer, danach Umzug nach Klein Weeden. Hier bewohnten wir mit neun weiteren Familien ein Haus. Drei Jahre lebte unsere Familie in einem Zimmer.

Unser Vater kam als Spätheimkehrer aus der Gefangenschaft zurück. Durch die jahrelange Trennung und die schlimmen Erlebnisse fand jedoch die Familie nicht mehr zusammen. Unsere Eltern wurden geschieden, und Mutter kümmerte sich weiter allein um uns Kinder.

Von der Regierung erhielten wir eine Starthilfe, als wir in die Bergpfalz zogen. Für das Geld konnten wir einen kleinen Herd, drei Betten, einen kleinen Kleiderschrank, eine Waschbütte und einen Handwagen kaufen. Damals glaubten viele Menschen, die Flüchtlinge bekämen alles geschenkt.

Erst Mitte der fünfziger Jahre fanden wir über das Rote Kreuz unseren ältesten Bruder wieder, von dem wir seit seiner Einberufung kein Lebenszeichen mehr hatten.“

Siegfried Botsch heiratete im Jahr 1955 Ruth Baumhardt und wohnt mit ihr in ihrem Heimatort Wiesweiler. Besonders in seinem Garten ist er glücklich und zufrieden. Doch die schlimmen Erinnerungen kommen immer wieder, besonders wenn er von Neonazis und deren Fremdenfeindlichkeit und Menschenverachtung hört. Er denkt daran, wie er sich als elfjähriger Junge fragte: „Warum lässt der liebe Gott die Bomber nicht einfach in das Wasser fallen?“  Er sagt: „Ich hatte damals ja keine Ahnung davon, dass der Krieg eine Folge des unglaublichen Wahnsinns, der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus der Nationalsozialisten war.

Anette Jost

(2012)

 

Info

Im Oktober 1944 flohen gewaltige Flüchtlingstrecks der deutschen Bevölkerung vor der Roten Armee. Millionen zogen in den Wintermonaten 1944/45 bei Schnee und Kälte, zumeist zu Fuß mit Handwagen oder mit Pferdefuhrwerken, nach Westen. Viele wären schon im Sommer geflohen, wurden zuvor von Nationalsozialisten zurückgehalten: Flüchtlingsströme passten nicht zu den Siegesparolen der NS-Propaganda.

Bis zu 600.000 Menschen starben auf der Flucht. Heute gehören ehemalige Flüchtlinge und ihre Nachkommen zu den Einwohnern in fast allen Dörfern der Region.