Kriegswaisen

Vaterlos aufgewachsen – Das Schicksal vieler Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg

Zeitzeugengespräch mit Ludwig Hinkelmann
vom 17.09.15 und Simon Jagoda

Weihnachten 1942 in Niedereisenbach: oben rechts Hugo, unten Ludwig mit seinen drei Schwestern

„Das Menschliche hat gefehlt“ – so fasstLudwig Hinkelmann die Zeit zusammen, die er gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und
in der Nachkriegszeit in Niedereisenbach erlebt hat, nachdem sein Vater in Russland vermisst war.

Geboren im Dezember 1931 ist Ludwig einer von vielen Kindern, die durch den Krieg ihren Vater verloren haben. „Das geht mir heute noch sehr nach“, erzählt Ludwig, der neben Originalbriefen seines Vaters Hugo Hinkelmann aus Russland und dessen
Kameraden noch viele Erinnerungen an diese Zeit hat. „Mein Großvater Adam Hinkelmann hat mich damals, ich war elf Jahre alt, in den Arm genommen und mir erklärt, dass mein Vater gefallen ist.“

Wer vor dem Kriegsdenkmal neben der Kirche in Niedereisenbach steht, kann bei den Gefallenen des Zweiten Weltkrieges
ganz rechts oben Folgendes lesen:
Laut Beschluss des Amtsgerichtes Grumbach (Glan) wird am 9.1.1951 erklärt, dass Hugo Hinkelmann, letzte Feldpostnummer 24 666 B“ am 2.9.1943 um 24 Uhr im Alter von 30 Jahren verstorben sei.

Doch darüber, wie genau Hugo Hinkelmann umgekommen sein soll, gibt es nur Vermutungen. Als Unteroffizier war Hugo in einer MG-Truppe in einer Panzerstellung in Jelnja – Smolensk im Einsatz. Bei einem Gegenstoß wurde die Truppe vermutlich von einem russischen Panzer überrollt. Mit diesem Schicksal musste die Familie zurechtkommen. Was blieb, waren die Erinnerungen.

Ludwig, der seinen Vater zuletzt im Frühjahr 1943 gesehen hatte, beschreibt ihn als
gerecht und aufrichtig. Er war sportlich und schwamm gerne im Glan. Ein Kamerad, dem Hugo im Krieg sehr nahe stand, charakterisiert ihn in einem Brief kurz nach seinem Tod am 11.11.1943 als kameradschaftlich und verlässlich. Für Hugo war die Familie offenbar immer wichtig und er hat seinen Kameraden von ihr erzählt. Auf seine Frau und seine Kinder war „der liebe Hugo immer stolz“. Das geht auch aus dem Brief von Hugo selbst hervor, den er am 5. Mai 1942 aus dem russischen Kriegsgebiet an seinen Sohn Ludwig schickte (s. Foto).

Brief Hugos aus Russland, 5.5.42 – Hugo Hinkelmann

Er war stets besorgt um seine Familie: „Am meisten freut mich Deine Nachricht, dass Ihr, meine Lieben noch alle gesund seid.“ Dieser Brief ist für Ludwig, der nach dem Krieg alleine mit seiner Mutter Elsa und seinen drei Schwestern keine männliche
Bezugsperson mehr in seiner Familie hatte, eine wichtige Orientierung. Denn sein Vater schreibt ihm darin, worauf es im Leben ankommt: „Lernst du auch fleißig in der Schule? Passe gut auf in Geschichte, Deutsch und vor allem Rechnen. Darin musst Du ganz gut werden. Denn das braucht man später für ein tüchtiges Geschäft zu lernen. […] Der Mutter wirst Du ja immer zur Hand sein und viel Kleinarbeit abnehmen […]. Also fleißig und brav bleiben meine Lieben“; so vermittelte Hugo, dass es erforderlich ist, hart zu arbeiten und Verantwortung zu übernehmen.

Dies galt besonders für Ludwig, der nach dem Krieg Zuhause den Mann ersetzen musste und dabei ganz auf sich alleine gestellt war: „Ich hatte nie jemanden, den ich fragen konnte, wie etwas geht. Ich war immer auf mich selbst angewiesen.“ Ludwig brachte sich vieles selbst bei. „Einmal habe ich mir Schuhe aus einem Reifen gebastelt; die Sohle raus geschnitten und dann einen Riemen drüber“, erinnert er sich.

Gegenseitige Unterstützung und Solidarität erfuhr die vaterlose Familie in Niedereisenbach in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum: „Jeder schaute für sich selbst und kochte sein eigenes Süppchen. Bauern, denen wir als Erntehelfer vor und während dem Krieg geholfen haben, gaben uns nicht einmal Kartoffelreste.“

Darüber hinaus beobachtete Ludwig, dass sich im Ort so etwas wie eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ bildete: „Familien mit (heimgekehrten) Vätern ging es gut, sie konnten sich mehr leisten und besser versorgen. Dabei spielte auch die Partei-angehörigkeit eine Rolle.“ Er bemängelt: „Ein Zusammenhalt, wie man es heute kennt, gab es damals nicht. Das Menschliche
hat einfach gefehlt.“ Im Vergleich zum besitzenden Bauern fühlten sich Handwerker wie Tagelöhner. Ludwig: „Man fühlte sich wie ein Mensch zweiter Klasse. Deshalb habe ich mich immer angestrengt, damit es einmal besser wird.“

So hat er nach seiner Schulzeit eine kaufmännische Lehre in Meisenheim begonnen, zunächst mit Widerwillen: „Das habe ich gemacht, weil mein Vater mir in den Briefen geschrieben hat, dass es wichtig ist.“ Vier Wochen nach dem Ende der Lehre heiratete Ludwig am 31.12.1950 seine Frau Anita, mit der er noch heute verheiratet ist. Sein knappes Brutto-Gehalt von 145 DM stockte Ludwig auf, indem er zusätzlich Versicherungen verkaufte und auf dem Bau (z.B. bei den Amerikanern in Baumholder) arbeitete. „Dass es unseren Kindern einmal besser geht als uns, das war immer das A und O“, lautet das Credo von Ludwig und Anita Hinkelmann.

Das Fehlen seines Vaters seit dem Krieg hat Ludwig nie wirklich verkraftet. So habe er seiner Meinung nach selbst auch viel Zeit bei seinen eigenen vier Söhnen verpasst, weil er immer unterwegs war, um für ein gutes Leben zu arbeiten. Einen Großteil der Erziehung habe seine Ehefrau übernommen, was ihm heute noch Gewissensbisse bereitet. Ludwig konstatiert: „Mein Vater hat mir und uns sehr gefehlt, was schließlich auch mein Leben geprägt hat.“

(- Simon Jagoda)